Bislang wurden vor allem Prototypen und geringe Stückzahlen additiv gefertigt. Bei größeren Chargen wird eine konstant hohe Produktqualität über verschiedene Standorte zur Herausforderung für die Unternehmen.
Gregor Reischle, Head of Additive Manufacturing bei TÜV SÜD, stellt im Gastbeitrag eine Zertifizierung zur Qualitätssicherung bei der Additiven Fertigung vor.
Um die Additive Fertigung (eng. Additive Manufacturing (AM)) im industriellen Maßstab möglich zu machen, ist ein Paradigmenwechsel in der Prozessqualifizierung nötig. Dafür sind alle produktspezifischen Qualitätsfaktoren zu kontrollieren. Dazu zählen:
- Hardware,
- Software,
- Dokumentation,
- Wartung und Kalibrierung der Prüfmittel,
- Bauteilhistorie,
- Werkstoffhistorie,
- CAD-Prozesse sowie
- Datenverarbeitung.
Werker, Ingenieure, Qualitätsmanager, Projektleiter und auch Vertriebler sind als ausgebildete Experten im industriellen Kontext genauso entscheidend.
KLASSISCHE VERSUS ADDITIVE FERTIGUNG – DIN SPEC 17071 ZEIGT DIE UNTERSCHIEDE
Beim Einsatz additiver Fertigungsverfahren gibt es bisher noch wenig Erfahrungswerte, und es fehlt an Standards. Erst seit November 2019 existiert ein Leitfaden für eine einheitliche Qualitätssicherung. Mit Hilfe dieses neuen Standards können Hersteller eine risikominimierte und qualitätsgesicherte Fertigung im Zeitraum von sechs Monaten aufbauen. Bisher zog sich der Prozess zur Etablierung einer qualitätsgesicherten Fertigung teilweise über mehrere Jahre hin.
Die DIN SPEC 17071 fasst den Stand der Technik der Additiven Fertigung zusammen und ist leicht zu implementieren, weil sich die Qualitätsanforderungen bauteil- bzw. produktspezifisch klären lassen. So entstehen vollständige und verlässliche Pflichtenhefte, was die Zusammenarbeit mit Materiallieferanten oder Auftragsfertigern erheblich erleichtert. Die zusammengefassten produktspezifischen Anforderungen werden danach zielstrebig und kalkulierbar erreicht. Das minimiert nicht zuletzt die Zahl der nötigen Lieferantenaudits und vereinfacht den Einkauf von Bauteilen.
Beispiele für Institutionen und Gremien, die an Standards für die Additive Fertigung arbeiten:
- TÜV SÜD Product Service
- Deutsches Institut für Normung (DIN NA 145 Additive Fertigung)
- Joint Committee von ISO (ISO/TC 261)
- ASTM International
Ziel der Richtlinie ist es, die Qualitätssicherung der Additiven Fertigung entlang der globalen Wertschöpfungskette zu vereinfachen.
AM FERTIGUNGSSTÄTTEN ZERTIFIZIEREN LASSEN
Aufgrund des dynamischen Markts und der Vielzahl an Anbietern verlangen Hersteller und Lieferanten zunehmend nach einem unabhängigen Begutachtungsverfahren. Die Zertifizierung „industrieller Produktionsstätten“ von TÜV SÜD Product Service soll eine verlässliche Fertigungsqualität sicherstellen. Sie umfasst Maschinen, Werkstoffe, Prozesse und Methoden sowie das Personal. Bei dieser Zertifizierung stehen die Materialprüfung und eine transparente Dokumentation der Maschinenabnahme sowie die gesamte Prozessführung in der Fertigung im Fokus.
Allgemeine Standards aus der Additiven Fertigung werden dafür durch technologiespezifische ergänzt – beispielsweise durch verschiedene VDI-Blätter zu Kunststoffbauteilen, dem Laser-Sintern und Konstruktionsempfehlungen. Auch die DIN 35224 für die Abnahme pulverbettbasierter Laserstrahlmaschinen oder die DIN 65123 zur Prüfung metallischer Bauteile kommen hierbei zum Tragen. Bei regulierten Branchen wie Luftfahrt, Medizin oder das Eisenbahnwesen, aber auch für Druckgeräte und sicherheitsrelevante Bauteile, fließen entsprechende Anforderungen mit in die Zertifizierung ein.
INTERNATIONALES NETZWERK DER FERTIGUNGSPARTNER
Hersteller müssen ihre Risiken minimieren und Investitionen in neue Produktionslinien oder Standorte transparent und kalkulierbar machen können. Auch dezentrale Fertigungsstätten mit verkürzten Lieferzeiten lassen sich so leichter aufbauen, wenn die Partner entlang der Wertschöpfungskette nach anerkannten Standards zertifiziert sind. Vor dem Hintergrund eines internationalen, qualitätsgesicherten Produktionsnetzwerks hat TÜV SÜD mit der US-amerikanischen Standardisierungsorganisation ASTM International eine Kooperation vereinbart. Für die Zukunft planen die Organisationen, gemeinsame Konferenzen, Schulungen, Trainings und Workshops auszurichten und streben eine enge Zusammenarbeit bei Qualifizierungen und Zertifizierungen an.
Mit dem Ziel, weitere Partner für die Entwicklung technischer Lösungen zu gewinnen, kooperiert der TÜV SÜD zudem mit weiteren Anwendern und Organisationen aus dem Bereich der Additiven Fertigung, wie dem Aachen Centre for Additive Manufacturing (ACAM).
Die Qualitätssicherung beginnt bei der Additiven Fertigung schon beim virtuellen Abbild.
DIE ZUKUNFT DER BAUTEIL-ZERTIFIZIERUNG IST DIGITAL
Weil sich die Prozesskette bei der Additiven Fertigung nahezu vollständig digitalisieren lässt, können die Experten über die Aufbereitungsschritte und die Prozess-Sensorik ein virtuelles Abbild eines Bauteils schaffen. Das bietet die Möglichkeit, nicht wertschöpfende Schritte der Qualitätssicherung durch ein automatisiertes „Runtime-Approval“ stufenweise abzulösen. Ziel ist, die Vision einer bauteilindividuellen Prüfung mittels digitaler Teststände zu realisieren und die Zulassung additiv gefertigter Produkte sicher und effizient zu gestalten.
Im Rahmen der Konzeptstudie für die digitale Zertifizierung „iAM Digital certification“ sollen künftig Bauteile automatisiert und standortübergreifend mittels eines digitalen Fingerabdrucks zertifiziert werden, um in Zukunft Transparenz zu schaffen und die produktspezifische Qualität zu sichern."
Gregor Reischle
Gregor Reischle ist Ingenieur, Berater und ein Senior Additive Manufacturing-Experte mit einem Executive MBA in Innovation und Unternehmensgründung der TUM School of Management. Neben der Etablierung von 3D-Drucktechnologien in der Produktion ist Reischles Leidenschaft gelebte Qualitätssicherung, Lean Entrepreneurship und Leadership. In seiner derzeitigen Rolle als Head of Additive Manufacturing bei TÜV SÜD definiert Reischle die AM-Strategie und den Geschäftsplan innerhalb der Additiven Fertigung, mit der Vision, den industriellen Erfolg der AM-Technologien zu ermöglichen. Er gründete und leitet das Team von 20 Experten in München, Singapur und Tokio.